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Über Stefan Zweigs Bibliothek, also jene Bücher, die er selbst besaß, für seine eigene literarische Arbeit nutzte und aus Interesse oder zur Unterhaltung las, war lange Zeit kaum etwas bekannt. Dabei war Zweig gerade für seine zahlreichen Biographien und Essays über literarische und historische Persönlichkeiten auf umfassende gedruckte Quellen angewiesen. Entsprechend aussagekräftig für die Forschung kann schon allein deshalb das Wissen um seinen früheren Buchbesitz sein.

ENTWICKLUNG DER BIBLIOTHEKEN

Bereits als Schüler und junger Autor hatte Zweig eine ganze Reihe von Büchern erworben und den Bestand in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut. Um 1930 war mit über 10.000 Bänden in seinem Salzburger Haus der größte Buchbestand in seinem Besitz erreicht. Neben gezielten Ankäufen waren zahlreiche Werke als Rezensionsexemplare und Geschenke von Verlagen und Autorinnen und Autoren hinzugekommen. Eine eigene, sehr umfassende Abteilung bildete die Sammlung der Auktions- und Verkaufskataloge für Autographen, die Zweig als Dokumentationsmaterial für seine Handschriftensammlung zusammentrug. Mit seinem Weggang aus Österreich und der Auflösung des Haushalts auf dem Salzburger Kapuzinerberg in den Jahren 1936 und 1937 wurde der allergrößte Teil der Bücher verkauft und verschenkt. Für seine neue Wohnung in London stellte sich Zweig aus ausgewählten Resten der in Salzburg vorhandenen Bestände und Neuerwerbungen eine kleinere Arbeitsbibliothek zusammen. Über den eigenen Besitz hinaus nutzte er – vor allem in den Jahren des Exils – auch Bücher aus öffentlichen Sammlungen, sodass in chronologischer wie auch in räumlicher Hinsicht nicht nur von einer Bibliothek, sondern vielmehr von den Bibliotheken Stefan Zweigs gesprochen werden kann.

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KATALOGE UND PROVENIENZMERKMALE

Da die meisten Bücher aus Zweigs Bibliotheken noch zu seinen Lebzeiten verteilt wurden und in zumeist unbekannten Besitz übergingen, ist heute nur noch ein Bruchteil davon sicher nachzuweisen. Ursprünglich waren alle Bestände auf Kateikarten und in Bandkatalogen verzeichnet, von denen jedoch nur noch diejenigen der Autographenkatalogsammlung und der sogenannten Hausexemplare erhalten geblieben sind. Rund 1.300 der ursprünglich über 10.000 Bände können Stefan Zweig heute anhand von Provenienzmerkmalen zugeordnet werden, die mehr oder weniger leicht zu identifizieren sind. Es handelt sich bei diesen Spuren um so eindeutige Zeichen wie Adressstempel oder handschriftliche Randbemerkungen, aber auch um Signaturen der früheren Aufstellungen in Zweigs Wohnungen, die oft nur aus dem Zusammenhang zu erschließen waren.

DIE BIBLIOTHEKEN BEI STEFAN ZWEIG DIGITAL

In den vergangenen Jahren konnten im Rahmen von privaten Initiativen und von STEFAN ZWEIG DIGITAL bisher unzugängliche oder unbekannte Teile von Zweigs Bibliotheken in privaten und öffentlichen Sammlungen ermittelt und ausführlich katalogisiert werden. Eine Ausnahme bilden die über 4.000 Autographenkataloge, von denen sich heute rund 3.000 im Deutschen Literaturarchiv Marbach befinden. Sie sind als Sonderbestand bislang noch nicht einzeln digital erfasst worden, es liegen jedoch Listen der gebundenen und als Einzelhefte erhaltenen Exemplare vor. Neben der Katalogaufnahme nach bibliothekarischen Standards wurden bei der Verzeichnung der Bücher auch alle individuellen Provenienzmerkmale aufgenommen. Die Definition und Erfassung der einzelnen Spuren erfolgt auf Grundlage des T-PRO Thesaurus, der standardisierte Bezeichnungen und Beschreibungen enthält.

ORIGINALSIGNATUREN

In den einzelnen Katalogeinträgen wurden im Feld Originalsignaturen auch die zahlreichen Standortangaben und Aufstellungssysteme festgehalten, deren Bedeutung noch nicht vollständig entschlüsselt werden konnte. Signaturreihen, wechselnde Nummernsysteme und wiederkehrende Kombinationen in thematisch ähnlichen Büchern lassen jedoch Rückschlüsse auf frühere Aufstellungen und auf Fehlstellen in den vorhandenen Beständen zu.

DER BESONDERE BESTAND DER HAUSEXEMPLARE

Mit über 600 Bänden bilden die als „Hausexemplare“ bezeichneten und zumeist mit einem entsprechenden Stempelabdruck gekennzeichneten Belegexemplare von Zweigs eigenen Werken einen bedeutenden Anteil des heute bekannten Buchbestands. Es handelt sich dabei um Originalausgaben sowie um verschiedene Folgeauflagen und Übersetzungen. Die Hausexemplare dienten vorrangig zur Verwaltung der Werke und zur Beantwortung der zahlreichen Anfragen für Übersetzungen und Abdrucke einzelner Texte. Einige der Bücher wurden auch als Textquellen und als Arbeitsexemplare genutzt und enthalten Streichungen, Änderungen und Korrekturen, die Stefan Zweig selbst vorgenommen hat.

AUSSAGEKRAFT DER BISLANG BEKANNTEN BESTÄNDE

Die übrigen heute noch bekannten Bände aus Zweigs Bibliotheken fallen in unterschiedliche Themenbereiche und literarische Gattungen. Nicht wenige der Bücher sind mit persönlichen Widmungen für Stefan Zweig versehen, die einen regen Austausch von Neuerscheinungen in seinem Umfeld dokumentieren. Rückschlüsse auf literarische Vorlieben oder thematische Schwerpunkte sollten anhand der verzeichneten Bücher bislang jedoch nur mit Vorsicht gezogen werden. Dass im bekannten Bestand beispielsweise kein einziges Werk von Thomas Mann enthalten ist, bedeutet keineswegs, dass Zweig keines besessen hat, sondern nur, dass bislang kein entsprechender Band aus seinem früheren Besitz nachgewiesen werden konnte. Denn durch Briefe und sonstige Bemerkungen ist in diesem Fall zweifelsfrei dokumentiert, dass Zweig und Mann sich ihre jeweils neuesten Werke, oft sogar mit persönlichen Widmungen versehen, gegenseitig zugesandt haben. Bei der Betrachtung der heute bekannten Bestände ist zudem zu berücksichtigen, dass die Bücher auf unterschiedlichen Wegen an verschiedene Orte gelangten. So bilden die heute im Besitz von Stefan Zweigs Erben in London verbliebenen Bände – abgesehen von den Autographenkatalogen – den umfangreichsten Einzelbestand. In seinem Kern geht dieser auf Zweigs eigene Auswahl aus der Salzburger Bibliothek infolge der Haushaltsauflösung zurück. In den folgenden Jahren wurde dieser Bestand beinahe ausschließlich durch gezielte Neuerwerbungen ergänzt und dürfte somit deutliche Hinweise auf Zweigs literarische Interessen in den späten 1930er-Jahren geben. Dagegen sind im Nachlass des Salzburger Schriftstellers Georg Rendl und in verschiedenem Privatbesitz gerade jene Bücher überliefert, die Zweig beim Gang ins Exil aussortiert hatte und denen er in dieser Phase seines Lebens vermutlich weniger Bedeutung beimaß.

CHANCEN UND PERSPEKTIVEN

Trotz aller Verluste und Einschränkungen lassen sich auf Grundlage des inzwischen bekannten früheren Buchbestands aus Stefan Zweigs Bibliotheken schon heute wichtige neue Erkenntnisse zu seiner literarischen Arbeit, zu seinen Lektüregewohnheiten und seiner Nutzung von Quellenmaterial sowie zu seinen persönlichen Interessen gewinnen. Durch die Verzeichnung der Bestände bei STEFAN ZWEIG DIGITAL können die ermittelten Informationen in Verbindung mit zahlreichen Archivalien und Dokumenten aus Zweigs sehr umfangreichem Nachlass betrachtet werden. So besteht in vielen Fällen die Möglichkeit, weitere und bisher oft unsichtbar gebliebene Bezüge der Materialien zueinander zu erkennen. Der Katalog soll auch zukünftig um Einträge neu aufgefundener Bände aus Stefan Zweigs Bibliotheken ergänzt werden. Dabei bietet sich mit den im Rahmen des Projekts ermittelten Provenienzmerkmalen erstmals die Möglichkeit, auch solche Bücher zu identifizieren, deren Herkunft bislang unbemerkt geblieben war. Für Hinweise auf weitere Bände ist das Team von STEFAN ZWEIG DIGITAL sehr dankbar.

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Weitere Informationen zum Buch

Ausführliche Informationen zur Bibliotheksgeschichte, zu den Beständen, den Provenienzmerkmalen und zu einzelnen Büchern finden sich in der im Rahmen von STEFAN ZWEIG DIGITAL entstandenen Publikation:

Stephan Matthias, Oliver Matuschek
Stefan Zweigs Bibliotheken
144 Seiten, 95 Abb., farbig und sw
27 x 21 cm, Broschur
Sandstein Verlag, Dresden 2018
ISBN 978-3-95498-446-6

„Die schicksalhafte Geschichte des Buchbesitzes Stefan Zweigs ist im Rahmen dieser klug konzipierten und reich illustrierten Publikation, die ich ausdrücklich zur Lektüre empfehle, schon jetzt in einem Umfang ‚sichtbar‘ geworden, der lange nicht für machbar gehalten wurde.“
Susanne Buchinger in Aus dem Antiquariat

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